Die beiden Wochenendtage gehören in Selb traditionell den Newcomer-Awards, samstags stellen sich jeweils die Mittelalter-Rockbands zur Wahl. Uns lockten die ungewöhnlichen Klänge als erstes an die Theaterbühne. Die Formation Totentanz Strumpfsockig war die erste Band, die sich an diesem Tag um den Award beworben hat. Optisch passt das Ganze zwar eher auf ein Gothicfestival, aber musikalisch holten Totentanz Strumpfsockig das Publikum mit ihrer Mischung aus Rock, Postpunk und zarten Folkklängen sehr gut ab. Sängerin Nina hat neben ihrer zauberhaften Singstimme nämlich auch grandiose Fähigkeiten an der Harfe und der japanischen Shakuhachi-Flöte in petto. Das Publikum war jedenfalls begeistert von diesem Auftritt. Die Formation setzte sich damit gegen die beiden anderen Bands durch und konnte sich am Ende den Goldenen Zwerg in ihrer Kategorie sowie einen Slot auf dem nächsten FM sichern. Herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle!
Weiter ging es für uns mit einem kurzen Abstecher ins Literaturzelt zur Lesung von Luci van Org und Florentine Joop. Letztere las aus dem Briefroman "Und wenn wir nicht gestorben sind", der in Kooperation mit Holger Much entstanden ist. Zwischen den kurzen Vorleseabschnitten plauderten die beiden Frauen über allerlei Dinge, es war insgesamt sehr lustig und erfrischend. Leider mussten wir nach knapp 20 Minuten auch schon wieder weiter, denn obwohl das Bühnenprogramm großzügiger geplant war als in den letzten Jahren, hatten wir irgendwie immer zu tun.
So bekamen wir noch einen Rest des Auftritts von Bernstein & Ebenholz mit, die im letzten Jahr Awardgewinner bei den Spielleuten waren und den Tag auf der oberen Bühne eröffnen durften. Das Duo hatte Unterstützung von Maria Nikola an der Harfe und die Gäste vor der Bühne tanzten in den Tag.
Tanzend ging es dann auch an der unteren Bühne mit Darth Polly weiter. Hier stand Irish Folk auf dem Plan und der Goldberg wurde kurzerhand zum Freiluft-Pub. Vor der Bühne brannte zwar die Sonne unbarmherzig auf die Tanzenden herab, aber davon ließen sich weder Band noch Fans abhalten. Als die Blackbeers dann noch für einen kurzen Gastauftritt die Bühne enterten, gab es kein Halten mehr. Eine tolle Party zur besten Kaffeezeit mitten in Selb! Kaffee war unser Stichwort, den besorgten wir uns und suchten uns für eine kurze Weile ein Schattenplätzchen zum Ausruhen.
Aber no rest for the wicked - es wartete mit Pyrolysis aus den Niederlanden schon die nächste Band auf der oberen Bühne. Wieder ging es folkig in die Vollen. Die Formation gab ihr Debüt in Selb und durfte sich über viele Gäste vor der Bühne freuen. Es war toll zu sehen, mit wie viel Spaß die Bandmitglieder dabei waren. Es wurde gesprungen, getanzt, in die Saiten und Tasten gegriffen und vor allem gefeiert, was das Zeug hielt. Das Publikum ließ sich kurzerhand anstecken und auch dieser Auftritt verlief mit massig Applaus, gut gelaunten Musikern und Besuchern. Da hatte wirklich jeder und jede seinen bzw. ihren Spaß!
Inzwischen war es schon früher Abend und wir mussten dringend etwas essen. Im Gespräch mit den Fotokollegen und ein paar Freunden verging die Zeit recht schnell, so dass wir doch tatsächlich ein Konzert verpasst haben. Für's Abtrainieren der eben aufgenommenen Kalorien hatten wir uns danach für den Gig von Tommy Krappweis und Harpo Speaks! entschieden. Diese Konstellation fand so auch noch nicht in Selb statt, weswegen wir es uns mit einem Cocktail von der Piratenbar an der Bühne im Hafenviertel gemütlich machten. Eine gute Entscheidung, wenn ich das mal so sagen darf. Tommy Krappweis stellte hier unter dem Motto "Dinge, die es noch nie auf dem Mediaval gegeben hat" einmal mehr unter Beweis, was für ein Multitalent er ist. Neben einigen Klassikern der Musikgeschichte, zum Teil auf bayrisch, durfte natürlich auch "Tanzt das Brot" nicht fehlen. Zu sehen, wie fast alle Anwesenden (auch wir) automatisch ihre Oberarme anlegten und die Hände seitlich winkend ausstreckten, um 'mitzubroten', war definitiv eines meiner Festivalhighlights. Danke dafür, Tommy!
Vor dem nächsten Auftritt hatte ich persönlich ein bisschen Angst. Schandmaul standen im Plan und ich wusste schon im Vorfeld, dass Sänger Thomas zwar dabei, aber nicht am Mikro sein wird. Vor der unteren Bühne hatte sich eine schiere Masse an Menschen versammelt, nirgends war noch ein Plätzchen zum Durchkommen. Und als die Band die Bühne betrat, brandete Applaus auf. Den Platz als Sänger nahm an diesem Abend Georgij von Russkaja ein, da Thomas noch nicht wieder singen sollte. Aber der eigentliche Leadsänger der Band fand nach dem ersten Lied die passenden Worte für alle Fans - über seine Situation, seine aktuell überstandene Krankheit und die Kraft, die ihm die Band gibt. Und auch, wenn er nicht singen durfte, so spielte er doch Gitarre und tanzte mit. Ich hatte Gänsehaut, doch es tat mir auch ein bisschen weh, ihn so zu sehen. Und ehrlicherweise muss ich gestehen, dass mich dieser Anblick so mitgenommen hat, dass ich mit Tränen in den Augen den Platz verlassen habe. Nicht, weil das Konzert schlecht oder Georgijs Stimme unpassend war. Im Gegenteil, das Konzert war großartig und die Massen haben zu Recht gefeiert. Aber ich konnte das in diesem Moment nicht.
Den Tagesabschluss sollte ein ganz besonderer Auftritt bilden. Die Band Lord of the Lost hatten sich angekündigt und versprochen, dass sie ein exklusives Akustikset spielen würden. Bereits im Vorfeld des Festivals gab es da sehr geteilte Meinungen. Die einen freuten sich unbändig auf den Gig, die anderen schimpften und meinten, die Band würde nicht nach Selb passen. Es blieb also spannend bis zum Beginn des Konzerts und was soll ich sagen - Lord of the Lost haben damit vermutlich auch die Hater überzeugt. Passend zum Konzept standen nur Barhocker und einige Instrumente auf der Bühne, die Band nahm auch direkt Platz - leider hat mit Klaas einer der Musiker gefehlt, weil er krank zu Hause lag. Aber das tat der ganzen Sache keinen Abbruch. Frontmann Chris Harms begrüßte das Publikum und bedankte sich für die Einladung auf "dieses unfassbar schöne Festival". Dann begannen die Hamburger Gothrocker mit ungewohnt leisen Tönen, schließlich war es ein Akustikkonzert, welches die Band in dieser Form auch noch nie gespielt hatte. Und was das für ein Gig war! Wirklich gut arrangierte Tracks aus der Banddiskographie und diverse Coversongs wurden präsentiert, zwischendurch plauderte Chris Harms über die Lieder und teilte zum Teil sehr persönliche Geschichten. Als sein Telefon zwischendurch klingelte, rief er kurzerhand zurück und holte so seine Mama mit auf den Goldberg. Was für ein sympathischer Mensch! Es gab eine Wall of Love, mehrere Slow Motion-Moshpits und überhaupt ganz viele Dinge, die selbst die Menschen mitnahmen, die sonst nicht so DIE Fans der Band sind. Den Abschluss des Auftritts bildeten dann noch der ECS-Song "Blood & Glitter", mein persönlicher Lieblingstrack "One Last Song" und das Ärzte-Cover "Schrei nach Liebe". Sichtlich gerührt verabschiedeten sich Lord of the Lost vom Festival-Mediaval und verließen, begleitet von wahnsinnig viel Beifall, die Bühne. Danke für diesen denkwürdigen und ganz besonderen Auftritt!
Für uns war der Tag damit ebenfalls beendet, wir verzogen uns in unser Nachtquartier, um noch einmal Kraft für den Sonntag zu schöpfen.
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Autor: Billie